Im Blick des Betrachters

Die Natur als Inspirationsquelle ist ein Thema, das gerade in der Kunst einen wichtigen Stellenwert einnimmt und aktuell wieder verstärkt in den Fokus der Auseinandersetzung rückt. Natur wird in den verschiedensten Medien neu verhandelt, in ihrer Struktur analysiert, in ihrer Erscheinung dokumentiert und mit der Wissenschaft verwandten Methoden erforscht1.

Haben schon die Expressionisten die romantische Vorstellung des allegorisch aufgeladenen Naturerlebnisses überwunden und die Originalität der Natur in einem tiefen Einfühlen in ursprüngliche Kulturen zur Erfassung des Wesentlichen verstanden2, thematisieren zeitgenössische Künstler im besonderen die Phänomene von Ordnung und Chaos, aber auch kulturelle Entwicklungen, die eine scheinbare Beherrschung der Natur oder ihre Zerstörung aufgreifen.

Luise Ramsauer offenbart uns in ihrem Werk den Zugang zu einer individuellen Bildwelt zwischen Gegenständlichkeit und Abstraktion und begibt sich auf einen schmalen Grat zwischen Realität und Imagination. Sie entwickelt eine Bildsprache, die naturwissenschaftliche Grundbedingungen für die Existenz von Leben in ihrer visuellen Erscheinung aufgreift, aus dem Naturvorbild herauslöst und in ihrem Charakter erfasst.

Es finden sich Bezüge zu Flora und Fauna in Form von Insekten und Vögeln, doch auch zu Blüten- und Pflanzenformationen. Von ihrem natürlichen Umfeld befreit und in die neue Umgebung versetzt, legt Ramsauer den Fokus auf die Welt der kleinen Dinge, die zum Existieren des größeren Ganzen beitragen.

Sie beschäftigt sich mit Lebensformen, die den meisten Menschen verborgen bleiben, richtet den Blick nach innen, in die Welt der Mikroorganismen und Kleinstlebewesen, und oszilliert in ihren Malereien und Zeichnungen sensibel zwischen dem Bezug zur Natur und der ihr eigenen imaginären Bildwelt. Überhaupt gibt Ramsauer dem Werden und Vergehen als universellem Kreislauf und notwendiger Voraussetzung neuen Lebens ein starkes Gewicht. Auf biologischen Prozessen der Existenz von Lebewesen aufbauend entwickelt die Malerin lebendige Bildwelten von Farbe, Form und Raum.

Jede Linie, jeder Strich auf der Leinwand gibt schon den Hinweis auf Form und Figur, und doch bleiben wir in Ramsauers Malereien im Ungewissen, was wir eigentlich sehen. Wahrnehmung appelliert an die Erinnerung des Betrachters und lässt Zweideutigkeit durch Gegenstände entstehen, die anerkannte Realitäten in Frage stellen, so Hans Platschek3. Diese Irritation schärfe den Blick für den ursprünglichen Ausdruck figurativer Elemente und erlaube die Chiffrierung zwischen Wirklichkeit und Malerei.

Sowohl die Zeichnung als auch die Farbe haben sich in diesem Sinne vom Gegenstand befreit und tarieren seither in konkreten, abstrakt expressiven und informellen Ansätzen ihre Möglichkeiten aus4. In ihrer Bildwelt negiert Ramsauer jedoch die völlige Formauflösung im Sinne des Informel, die dem alleinigen Diktat von Zufall und Spontaneität folgt. Vielmehr orientiert sie sich in ihrer expressiven Malweise an einer Abstraktion, die deutliche Rückschlüsse auf Natur, Landschaft und Mensch zulässt, wie sie beispielsweise Hans Arp und Henry Moore als Gegenposition zur völligen Eliminierung figurativer Elemente in der Malerei einführten. Auch Luise Ramsauer greift organische Motive auf und wandelt diese zu amöbenartigen, vegetativ wachsenden Gebilden komplexer Struktur.

Dieses Oszillieren zwischen Gegenständlich und Ungegenständlich bewirkt einen spannungsreichen Schwebezustand visueller Zuordnung, der wesentlich getragen wird von einer spontan malerischen Geste. Farbe als Identitäts- und Stimmungsträger unterstreicht die symbolhafte Zeichensprache der Künstlerin, die durch zahlreich übereinander gesetzte Schichten und fein gegeneinander abgestimmte Farbwert- und Hell-Dunkelkontraste den Bildgrund zum räumlichen Kontinuum wandelt.

Oftmals sind die Farbtöne einem Spektrum entlehnt, das an das Inkarnat gefasster Skulptur oder die Himmelszonen barocker Deckengemälde erinnert. Diente die lichtdurchflutete Malerei der Visualisierung göttlicher, also übergeordneter Kraft und der Illusion eines sich ins Unendliche öffnenden Raumes, so entwickelt Luise Ramsauer von Beginn an einen barocken Farbkanon von Neapelgelb, Englischrot und Azuritblau zur Sichtbarmachung universeller Kräfte. Ihr Bildkosmos greift das Zusammenspiel der Grundelemente Feuer, Wasser, Luft und Erde, aber auch die Erscheinung nackter menschlicher Haut auf. Farbe und Rhythmus der Einzelformen folgen demnach nicht einer Nachahmung, sondern vielmehr einer Beschreibung, die dem Verständnis der Natur als hybrides Gebilde, das den Menschen mit einschließt, gleichkommt5.

Wie ein Bild im Bild sind in den frühen Arbeiten von Luise Ramsauer die entstandenen Einzelformen umrandet und mehrfach auf der Leinwand verteilt. Sie ziehen den Betrachter an verschiedenen Stellen durch fensterartige Ausblicke in die Tiefe und gliedern die Bildfläche in mehrere Aktionsräume auf unterschiedlichen Ebenen. Die Grenzen der Einzelmotive sind durch klare Konturen deutlich markiert und verstärken einen isolierten Blick auf die Einzelschauplätze.

Häufig bestimmen zwei Hauptebenen die Komposition, deren eine homogen und gleichmäßig ist und an den optischen Öffnungen eine zweite, darunter liegende tiefenperspektivisch erkennen lässt. Die Einzelformen stehen durch ihre Anordnung im Dialog, sind jedoch durch die unterschiedlichen Aktionsebenen und klaren Begrenzungslinien ganz bewusst voneinander losgelöst. Eine auf diese Weise in Fragmente gegliederte Darstellung betont den Eindruck eines beweglichen Gesamtbildes, jedoch auch die Trennung der Einzelgebilde voneinander. Ihre Korrespondenz findet sich in einer dynamischen Linienführung und der farblichen Komposition, der eine wesentlich bildbestimmende Funktion zukommt.

Es bedurfte vieler Zwischenschritte von einer auf der Bildfläche verteilten Gesamtkomposition zur Befreiung der isolierten Einzelform. Vermutlich war die Serie der blauen Großformate der 1990er Jahre ein erster Ansatz in diese Richtung. Durch den tiefdunklen Farbton und die damit einhergehende Assoziation eines sich unbegrenzt fortsetzenden Raumes ließ die Malerin erstmals eine offene Struktur der Komposition zu. Doch erst viele Jahre später behaupten sich ihre Einzelgebilde zum alleinigen Element der Darstellung, das wir besonders in den Arbeiten der letzten beiden Jahre als konsequente Weiterentwicklung erkennen.

Farben werden nun innerhalb ihres bisherigen Spektrums leuchtender und deutlich kontrastreicher eingesetzt. Rot wird kraftvoll und flächig verwendet, Blau wird heller und wandelt sich zum Türkisgrün, Gelb wird strahlender und Schwarz tritt verstärkt in Form von Strukturlinien auf, um den zeichnerischen Charakter der Malereien zu betonen. Die Kompositionen sind klar strukturiert durch aufstrebende und sich kreuzende Bewegungsachsen, doch auch bestimmt von einer horizontalen Ausrichtung, die deutlich den Bezug zum Landschaftsmotiv sucht. „Jede horizontale Linie wird als Horizont gelesen“6, dementsprechend als Grenzlinie zwischen der sichtbaren Erde und der Himmelszone. Ein Phänomen, das von der Malerin als ausgleichendes Element zur expressiven Malweise und zu ihrem kraftvollen Pinselstrich eingesetzt wird.

Weiterhin bleiben jedoch die Formen von Luise Ramsauer schwer zu beschreiben und variieren noch schneller ihren Aggregatszustand. Sie zerfließen, vermehren und verändern sich explosionsartig auf der Bildfläche und wirken wie Momentaufnahmen eines rasant fortlaufenden Prozesses. Die Einzelformen werden zum Gesamtbild, sie emanzipieren sich von ihrer Umgebung und lösen sich aus dem vielteiligen Kontext heraus. Erstmalig finden sich keine Begrenzungslinien mehr, die Bilder öffnen sich und geben den unversperrten Blick auf die innere Welt frei.

Ramsauers expressive Geste steigert die Lebendigkeit ihrer Motive, lässt urknallartig Gebilde entstehen, die sich wie selbstverständlich auf der Leinwand behaupten. Zufall als Konzept ist mit einkalkuliert und betont den Prozess des Malens, der besonders spontane Reaktionen zulässt. Die Handlungsstränge werden nun auf einer Ebene konzentriert, die sich durch sanfte farbliche Übergänge zum illusionistischen Raum erweitert. Unmittelbar und kraftvoll begegnen die biomorphen Formen nun dem Betrachter direkt ohne Umschweife und bleiben durch ihre Abgrenzung zur Realität doch geheimnisvoll.

Besonders deutlich wird die immer energischer erscheinende Geschwindigkeit der im Bild festgehaltenen Aktionen in kleinformatigen Serien. Von einer konzentrierten Anhäufung in der Bildmitte lässt Ramsauer beispielsweise in weiteren Sequenzen eine vielschichtig verdichtete organische Form einem Sog folgen und schließlich beinahe verschwinden. Oder die Formen vermitteln durch verwischte Umrisslinien den Eindruck zu zerfließen und vermengen sich in weichen Übergängen mit dem Hintergrund.

Aus den ursprünglich klaren Konturen der Einzelformen, die sich zu prägnant eingesetzten Strichlinien in starkem Farbkontrast wandelten, entwickeln sich nun spurenartige Kürzel, die ebenso an die Abdrücke von Paarhufern erinnern könnten wie an Ameisenstraßen, Fliegenschwärme oder Chromosomenpaare. Sie führen zu den bildbestimmenden Motiven, sprudeln aus ihnen heraus oder umkreisen sie. Und manchmal nehmen sie andeutungsweise die Form eines Herzens an, ein Motiv, das Luise Ramsauer seit Beginn ihrer Malerei begleitet. Als Symbol wurde das Herz in der Kunst vom Mittelalter an romantisiert, naturfern stilisiert und gilt als Sitz von Leben und Seele7. Der Künstlerin ist es Basis aller Auseinandersetzung mit Leben und Evolution und taucht kontinuierlich auf, wenn auch in aktuellen Arbeiten nur noch angedeutet.

Wesentliches Gestaltungsmittel wird immer deutlicher die Farbe, nicht im Sinne einer Naturimitation, sondern als Entsprechung einer sinnlichen Wahrnehmung der Malerin selbst. Die Phänomenologie der Farbe ist in vielen Theorien erforscht und unterliegt nachweislich dem subjektiven Eindruck, der sich an Erlebtem und besonders an der Betrachtung von Natur orientiert. In aktuellen Bildzyklen widmet sich Luise Ramsauer Farbwelten, in den gelben, roten und blauen Serien. Sie erscheinen wie zeitlose Kompositionen, die weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart zu verorten sind, sondern im Blick des Betrachters.

Anjalie Chaubal

1 Witzgall, Susanne, Natürlich anders. Fünf künstlerische Annäherungen an die Natur in Abgrenzung zur Wissenschaft, in: Die Ordnung der Natur, Linz 2005, S. 13 ff.

2 Padberg, Martina, in: An die Natur, Altana Kunstsammlung, Ausst.-Kat. Altana Kulturstiftung, hrsg. von Andrea Firmenich, Köln, 2007, S. 39.

3 Platschek, Hans, Bilder im Bild, in: Neue Figurationen, Aus der Werkstatt der heutigen Malerei, München 1959, S. 91.

4 Cy Twombly hat bereits in den 1950er Jahren Schriftzeichen gestisch expressiv aufgelöst und gezeigt, dass auch die Linie sich vom Gegenstand befreien kann; vgl. hierzu: Hochdörfer, Achim, in: Cy Twombly, States of Mind, Malerei, Skulptur, Fotografie, Zeichnung, Museum Moderner Kunst Stiftung Ludwig Wien, 2009, S. 14; Die Mitglieder der sog. „New York School“ und der Kritiker Clement Greenberg setzten maßgebliche Neuerungen in der Befreiung der Farbe vom Gegenstand, vgl. hierzu: Greenberg, Clement, in: Die Essenz der Moderne, Dresden, 1997.

5 Witzgall, Susanne, Natürlich anders. Fünf künstlerische Annäherungen an die Natur in Abgrenzung zur Wissenschaft, in: Die Ordnung der Natur, Linz 2005, S. 13.

6 Herbert Brandl, zitiert nach: Wolfgang Kos im Gespräch mit Herbert Brandl. in: Alpenblick, Die zeitgenössische Kunst und das Alpine, Ausst.-Kat. Kunsthalle Wien, Wien, 1997, S. 70.

7 Lexikon der Symbole, Augsburg, 2000, S. 186.