Fließende Welten

Die Malerei, sagt der Schweizer Kritiker Patrick Frey, hat „schon lange keinen ernstzunehmenden Auftrag mehr; weder den Auftrag, die sichtbare Wirklichkeit, geschweige denn deren farbige Naturwunder abzubilden (das ist die Aufgabe der Kodak-Malerei oder der elektronischen Paint-Boxes), noch den Auftrag, die Wunder der Lebenswelt [...] auf die Leinwand zu bringen.“ Auch wenn es immer wieder Leichtsinnige und Unbelehrbare gibt, die bereit sind, sich dem Handwerk der Malerei auszuliefern, bleibt die Frage nach dem Sinn ihres Tuns unbeantwortet.

Mit dem Hinweis auf die ästhetischen Qualitäten des Bildes, auf dessen malerische Werte, auf den offensichtlichen Reiz, mit welchem die Farbmaterie unseren Augen-Sinn befriedigt, kann allenfalls die utilitäre, dekorative Seite der Malerei von heute begründet werden. Die Malerei und das gesamte Bild müssen außer der Vermittlung von malerischen Werten, jener von den Kennern in nicht allzu entfernter Vergangenheit so begehrten „belle peinture“, eine Verschmelzung des Malerischen mit seiner bildhaften Gegenständlichkeit – dem Wunderbaren – anstreben. Darin liegt, wie Frey weiter meint, „die wohl einzige Chance einer Malerei, die überhaupt noch irgendwelche sichtbaren Wirklichkeiten abbilden will, ohne hoffnungslos nostalgisch zu sein.“

In den Bildern der Münchner Malerin Luise Ramsauer verbindet sich auf überraschende Art und Weise beides – die fließende, lebhafte, stofflich-organische Farbmasse, als Träger der malerischen Reize der optisch und haptisch zugleich wirksamen Bildoberfläche, und die provozierende Inhaltlichkeit, deren Aufschlüsselung dem Betrachter Kopfschmerzen bereitet. Mit erstaunlicher Frische und entwaffnender Selbstverständlichkeit setzt Luise Ramsauer malerische Kürzel und Zeichen nicht als fest umgrenzte, konturierte Formeln ins Bild, sondern als offene, sich in einem magmatischen Prozess der Entstehung der Materie befindenden Ur-Zellen des Malerischen. „Panta rhei“, alles fließt, dieser alte Spruch, dem antiken Philosophen Heraklit zugeschrieben, scheint hier eine Entsprechung zu haben.

Motivisch lassen sich Luise Ramsauers Bilder der 90er Jahre nur vage beschreiben, weil sie selbst das Fleißende und im Entstehen Begriffene verkörpern. In den meisten Fällen denkt man zunächst an biologische Präparate, an jene Kulturen, die zwischen zwei Gläsern im Labor eingeschlossen, sich vermehren, teilen und als Ausgangsmaterial für mikroskopische Studien dienen. Zellen, Amöben, Schalentiere und andere winzige Lebewesen breiten sich in dieser Bilderwelt vehement aus, schwimmen, teilen und grenzen sich ab. Aber auch die „sichtbare“ Flora und Fauna – Muscheln, Austern und Sepien, Gebilde, die zuweilen etwas ungemein Erotisches an sich haben, tauchen in nur sparsam definierten Bildräumen auf, Vorboten eines fließenden Universums „in situ nascendi“.

Diese Bilder sind weder naturalistisch noch abstrakt, weder figürlich noch konstruiert. Luise Ramsauer ist keine Konzeptkünstlerin. Ihre Vorliebe gilt dem malerischen Prozess, jenem manuell-sensitiven Vorgang, in dessen Verlauf sich die Farbmaterie in wundersame, glänzende Gebilde verwandelt. Das Anziehende in ihren Bildern ist, dass sie diese Gebilde, gleichgültig, ob sie der Flora, Fauna oder der Phantasie angehören, unmittelbar aus dem Malmaterial, dem wohlriechenden Ölgrund entstehen lässt – eine farbenprächtige Metamorphose, deren Zeugen wir alle sind.

Zdenek Felix